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Kinder mit Epilepsie starren plötzlich in die Leere


Epilepsie kommt oft unscheinbar daher. So auch bei Leo, dessen Symptome erst ADHS vermuten liessen. Heute kann man die Krankheit aber schon früh entdecken und  behandeln.

VIDEO: Epilepsie bei Kindern I Dr. med. Friedemann Lindmayer I Prof. Dr. med. Bernd-Dieter Gonska
DRK-Kreisverband Karlsruhe e. V.

Kinderneurologe Alexandre Datta im Gespräch mit der Mutter eines Epilepsie-betroffenen Knaben.

Kinderneurologe Alexandre Datta im Gespräch mit der Mutter eines Epilepsie-betroffenen Knaben.

Foto: Kostas Maros

Eines Tages ruft die Lehrerin Leos (Name geändert) Eltern an: Sie macht sich Sorgen, weil der Zweitklässler seit ein paar Wochen immer wieder kurz ins Leere starrt. Manchmal nur fünf Sekunden, manchmal auch länger. Er verliert ständig den Faden und hat Mühe, dem Unterricht zu folgen.

Der daraufhin aufgesuchte Kinderarzt schliesst ein Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) aus. Eine weitere Untersuchung bei einem Kinderneurologen ergibt die Diagnose: Der Bub leidet an einer Absence-Epilepsie, einer der häufigsten Epilepsien im Kindesalter. 

Krankheit mit vielen Gesichtern

VIDEO: Krampfanfälle bei Kindern
Pflegecampus

Bekannt aus Literatur und Film ist das Bild eines Mannes, der krampfend, rhythmisch zuckend am Boden liegt und aus dem Mund schäumt.

Doch das ist bei Leo zum Glück nicht der Fall. «Im Gegensatz zu einer Absence-Epilepsie sind diese schweren Symptome typisch für die sogenannt tonisch-klonischen Anfälle», sagt Alexandre Datta, Neuropädiater und Epileptologe am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKKB). Dies seien aber nur zwei Arten, wie sich Epilepsie-Anfälle präsentieren könnten: Während eines Anfalls kommt es zwischen Millionen von Hirnnervenzellen zu elektrischen Impulsen, die zu unkontrollierten Befehlen an den Körper führen. Man unterscheidet generell zwischen fokalen Anfällen, die in einem bestimmen Hirnareal stattfinden, und solchen, die auf der ganzen Hirnrinde gleichzeitig losgehen und generalisiert sind. 

Rund ein Prozent der Menschen betroffen 

VIDEO: Epilepsie bei Kindern | Svens Entscheidung für eine Operation | Doku | SRF Dok
SRF Dok

Je nach betroffenem Hirnareal wirken sich die «Explosionen» anders aus: Manchmal krampft der ganze Körper, manchmal zuckt nur ein Körperteil, zum Beispiel ein Arm, ein Augenlid, oder der Mund schmatzt. Es gibt Anfälle, die man bewusst wahrnimmt, andere nur mit eingeschränktem oder sogar fehlendem Bewusstsein. Ein Anfall kann auch verbunden sein mit Halluzinationen, der Änderung der Gesichtsfarbe oder eben mit Absenzen.

Rund ein Prozent der Bevölkerung lebt mit einer Epilepsie. Die Krankheit wird zwar heute häufiger diagnostiziert, aber nur, weil man immer mehr darüber weiss. Am häufigsten tritt Epilepsie im ersten Lebensjahr auf – und ab dem 60.

Bei Kindern geht man hauptsächlich von genetisch bedingten Ursachen aus. Eine Epilepsie kann auch durch bestimmte Ereignisse ausgelöst werden: eine schwere Geburt, eine Krankheit oder einen Unfall. Oftmals findet man aber auch keine klare Ursache. 

Abwarten ist keine Option

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Erste Anlaufstellen bei Epilepsien sind Neurologinnen und Neurologen in Kinderspitälern, spezialisierte Kliniken und Praxen. Bei Leo erkannte man das Problem rasch mittels eines sogenannten Elektroenzephalogramms (EEG), einer Technik, die die Hirnaktivitäten misst.

Leos Eltern sind über die Diagnose bestürzt. Der behandelnde Neurologe erklärt den Eltern jedoch, dass sich diese Absenzen gut behandeln liessen und Leo in der Schule nicht beeinträchtigt sein müsse.

Zuwarten mit einer Abklärung sollte man aber nicht. «Das ist keine Alternative», betont Alexandre Datta, der Basler Kinderneurologe. Das Allerwichtigste sei, das Kind vor weiteren Anfällen zu schützen. Ausserdem können durch die Absenzen auch Unfälle passieren. Eine Epilepsie mit regelmässig auftretenden Anfällen sollte deshalb grundsätzlich immer behandelt werden. (Mit Ausnahmen vielleicht jener Formen, die in einem bestimmten Kindesalter auftreten und wieder verschwinden.)

Leo erhält nun morgens und abends eine Tablette, was die Anfälle normalerweise relativ rasch zum Verschwinden bringt. Trotzdem darf er zur Sicherheit eine Zeit lang nicht Velo fahren und schwimmen, bis seine Epilepsie gut eingestellt ist.

Breite Palette an Therapien

VIDEO: EPILEPSIE I WIE ERKENNE ICH EINEN ANFALL? I DOC CARO
Doc Caro

Mittlerweile stehen über dreissig anfallsunterdrückende Medikamente zur Auswahl in Form von Tabletten, Kapseln oder Sirup. Anfallsunterdrückend wirkt auch Cannabidiol (CBD), ein Wirkstoff der Cannabispflanze, der aber nicht high macht. 

«Wir können heute die Kinder individuell und gut verträglich behandeln.»

Alexandre Datta, Kinderneurologe

Neben medikamentösen gibt es weitere Behandlungsformen, zum Beispiel eine sogenannte ketogene Diät: Mithilfe einer Ernährungsberaterin wird der Zucker in der Nahrung stark reduziert und zugleich das Fett erhöht, was die Anfälle vermindern kann. «Wir können heute die Kinder recht individuell und gut verträglich behandeln», sagt der Kinder-Neurologe Alexandre Datta. In einigen seltenen Fällen könne auch eine Operation nötig sein.

«Trotz des grossen Therapieangebots», so Datta, «hat der Anteil der Kinder aber nicht abgenommen, die an einer schwierigen oder gar nicht kontrollierbaren Epilepsie leiden.» 

Unterdessen geht man in der Forschung ganz neue Wege. So versucht man, mit neuen Wirkstoffen den krankheitsverursachenden Gendefekt nicht nur anzupassen, sondern auch dessen Auswirkungen, also die Krankheit, zu beeinflussen. Doch das ist vorerst noch Zukunftsmusik.

Besondere Risiken beim Sport

VIDEO: Absencen einfach erklärt - epileptische Anfälle bei Kindern und Jugendlichen (Arzt informiert)
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Das Leben mit einer Epilepsie erfordert viel Wissen – nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihr Umfeld. Was ist zu tun bei einem Anfall? Wo sind die Medikamente? Was sind die Anfallsauslöser? Die Betroffenen sollten ihre «Trigger», die Auslöser, gut kennen. «Je besser man diese kennt, umso weniger muss man sich unnötig einschränken», sagt Alexandre Datta.

Mit besonderen Risiken verbunden sind schwimmen, Velo fahren oder klettern, im Jugendalter aber auch Alkoholkonsum oder Schlafmangel. Jemand im Umfeld sollte immer über die Krankheit informiert sein.

Gewisse Kinder haben vor allem nachts Anfälle, die man nicht immer gut hört: Dann kommt zum Beispiel eine «Night-Watch» zum Einsatz. Die «Uhr» bindet man dem Kind nachts um den Arm. Sie registriert einen plötzlichen Herzfrequenzanstieg oder rhythmische Bewegungen mit dem Arm und schlägt dann Alarm.

Hilfreiche Epilepsie-Schulung

VIDEO: Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall
Schweizerische Epilepsie-Liga

Um sich die nötigen Kenntnisse anzueignen, lohnt sich auch der Besuch einer Epilepsie-Schulung sowie anderer Informationsveranstaltungen für Eltern und Kinder. Diese werden etwa von der Patientenorganisation Epi Suisse oder von der Schweizerischen Epilepsie-Liga angeboten. Ziel ist es, ein möglichst normales Leben führen zu können.

Erfahrungsgemäss wird Leo das antiepileptische Medikament etwa in zwei Jahren langsam absetzen können. Sein Nervensystem sollte sich bis dahin beruhigt haben, sodass er wieder ein ganz normales Leben führen kann. 

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Author: Stacey Richard

Last Updated: 1703664842

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