Raphael Smarzoch: Mathew Dryhurst, ich finde die Idee der Tokenisierung sehr interessant. Sie haben in früheren Interviews erwähnt, dass Sie sich für eine Tokenisierung von Streaming-Diensten einsetzen, zum Beispiel Soundcloud oder Spotify. Wie würde so etwas funktionieren?
Mathew Dryhurst: Das ist eine interessante Idee, die ich hatte, als Soundcloud in finanziellen Schwierigkeiten steckte und eine Neuausrichtung auf der Führungsebene nötig war. Plattformen wie Soundcloud oder auch Twitter sind Versorgungsnetze. Eine wirklich große Gruppe von Menschen möchte nicht, dass sie verschwinden. Diesen Plattformen ist es aber bislang nicht gelungen, ein Geschäftsmodell zu entwickeln, um sich damit über Wasser zu halten. Ich dachte darüber nach, was es für diese Organisationen bedeuten würde, wenn sie ihre Eigentümerschaft abgeben würden? Das ließe sich auf verschiedene Arten bewerkstelligen. Tokenisierung ist aber ein ziemlich billiger und schneller Weg, um Eigentumsrechte an Menschen zu verteilen. Was würde es bedeuten, wenn 49 Prozent von Soundcloud an ihre Nutzer weitergegeben würden und diese Nutzer dann die Möglichkeiten eines Token-Ökosystems nutzen könnten, um über verschiedene Features abzustimmen oder generell in den Erhalt und zukünftigen Wohlstand der Plattform zu investieren? Die Frage ist, wie man die Verteilung gerecht ausgestaltet und zwischen den Teilnehmern einer Initiative und der Initiative selbst Leistungsanreize schafft?
Die Unveränderlichkeit der Blockchain
Smarzoch: Aber wie würde der Künstler davon am Ende profitieren?
Dryhurst: Ein Argument ist, dass der Künstler ein persönliches Interesse daran hätte, die Plattform zu pflegen, damit sie nicht verschwindet. Es gibt dort so eine Menge Geschichten, dass es den Leuten schlecht gehen wird, wenn eine Plattform plötzlich wegfällt, auf der sie zehn Jahre damit verbracht haben, ihre Karriere aufzubauen, auf der sie mit ihren Fans und Kollegen kommunizierten, und wenn sie auf einmal wieder von vorne anfangen müssen.
Smarzoch: Es gibt heute so etwas, das man als digitale Amnesie bezeichnet, also den unwiederbringlichen Verlust von Daten im Internet. Würden dezentrale Streaming-Dienste - das müssen nicht Soundcloud oder Spotify sein, was auch immer - verhindern, dass so etwas passiert?
Dryhurst: Einer der Vorteile dezentraler Systeme ist, dass sie nicht verschwinden können. Eine Blockchain ist unveränderlich, man kann sie nicht verändern. Wenn Sie also Geschichte festhalten und die von ihnen erwähnte digitale Amnesie aufhalten wollen, was würde es dann für Musiker bedeuten, ihre Werke in dieser Datenbank zu registrieren, die nie abgeschaltet werden könnte? Verschiedene Plattformen könnten an diese Datenbank andocken und mit unterschiedlichen Arten von Benutzererfahrungen experimentieren oder Märkten, die Geschäfte und den Handel ankurbeln. Sollte eine von diesen Geschäftsideen sterben, verschwindet die Musik nicht für immer. Und so ist es eine ziemlich coole Idee, über eine gemeinsame dezentrale Datenbank nachzudenken, in der die Arbeit und die Geschichte gespeichert werden. Ein Archiv als Versorgungsprojekt, wie eine Art Handwerkerprojekt, bei dem jeder mitarbeitet, um sicherzustellen, dass die Dinge nicht zur Hölle fahren.
Digitaler Weltenbau
Smarzoch: Zurück zum Künstler: Ein auf der Blockchain basierendes System würde also verhindern, dass das Werk eines Künstlers vergessen wird. Das ist ein Aspekt, den ich aus Ihrer Antwort heraushöre. Aber was wären denn die künstlerischen Innovationen, die damit einhergehen würden? Würden diese Systeme vielleicht auch den Klang der Musik verändern?
Dryhurst: Da bin ich skeptisch. Ich denke aber, die Technologie bietet einige neue Möglichkeiten, wenn Sie zum Beispiel ein so genanntes Smart-Contract-System haben, ein unveränderliches Smart Contract-System. Das Interessante an diesem Konzept ist, dass man als Künstler darin ein Ökosystem erschaffen kann, dessen Gesetze nicht geändert werden können. Menschen können sich für die Teilnahme an diesem System entscheiden, ob sie es mögen oder nicht. Sagen zu können, "ich habe diese Welt gebaut und in dieser Welt gelten folgende Regeln", ist sehr vielversprechend. Es wäre eine Weiterentwicklung einer künstlerischen Praxis. Es ermöglicht zu fragen: Wie kann ein Künstler ein System von Regeln schaffen, das es ihm erlaubt, seinen Willen in den Umgebungen durchzusetzen, in denen seine Arbeit rezipiert wird?
Smarzoch: Ich fasse mal kurz zusammen: Einerseits würde es also helfen, eine digitale Amnesie zu verhindern und damit die Arbeit des Künstlers stärken. Dann sprechen wir im Grunde genommen von einer Art "Weltenbau", der Erschaffung einer Welt, und dieser Weltenbau ist meiner Meinung nach auch ein Teil des Klangs. Ich denke, das würde die Arbeitsweise eines Künstlers ändern oder sie zumindest beeinflussen, und im Falle eines Musikers könnte das auch seinen Sound beeinflussen. Und dann gibt es noch einen dritten Teil, über den wir noch nicht gesprochen haben. Es geht auch um ethische Aspekte. Ich meine, wenn man als Fan zum Anteilseigner einer bestimmten künstlerischen Welt wird, dann hilft man auch, die dahinterstehende Gemeinschaft des Künstlers zu stärken, oder?
Dryhurst: Ja. Wenn es um Ethik geht, finde ich die Vorstellung interessant, an etwas zu glauben – besonders in der Kultur. Der Glaube an etwas erschafft widerstandsfähige Gemeinschaften und Szenen. Ich mag zum Beispiel die Techno-Szene. Diese Szene ist sehr orthodox. Sie ist in vielerlei Hinsicht eine recht konservative Gemeinschaft. Ich erwähne immer wieder den Berliner Klub Berghain als klassisches Beispiel. Er funktioniert nach einem sehr spezifischen Protokoll. Die Leute, die dort arbeiten, regulieren, wer hereinkommt. Sie regulieren, was herauskommt. Sie regulieren, was im Inneren passiert. Man schaltet sein Handy aus. Das ist eine sehr spezielle Vorstellung einer Party. Es ist nicht meine Vision. Ich finde sie aber sehr interessant und respektiere es, dass sie es geschafft haben, diese Ideologie in das materielle Leben zu übertragen. Sie haben diese Welt aufgebaut, und die Welt funktioniert so, wie sie es sich wünschen. Mir gefällt die Idee unterschiedlicher ethischer Systeme. Ich würde mich freuen, wenn es 20 konkurrierende ethische Systeme geben würde, die Wege finden, ihre Ideologien in Geschäftsideen zu übertragen. Wenn man damit nichts zu tun haben möchte, dann lässt man es bleiben. Aber wenn man in diese Welt eintreten möchte, dann muss man ihren Regeln folgen.
Die Möglichkeit, sich neu zu erfinden
Smarzoch: Und wo sehen Sie die alten zentralisierten Institutionen, die sogenannten Vermittlerinstanzen, in diesem Szenario - zum Beispiel Plattenfirmen, Aufführungsrechte-Organisationen? Werden sie in Zukunft obsolet sein?
Dryhurst: Ich glaube nicht, dass die Blockchain oder eines dieser Systeme, falls es übernommen werden sollte, diese Institutionen obsolet macht. Das passiert jetzt schon anderweitig. Wenn überhaupt, dann ist es eigentlich eine Gelegenheit für Labels und Leute, die eine ganz bestimmte Vision von Musik oder Kultur verwirklichen wollen, sich selbst neu zu erfinden. Es gibt dort tatsächlich mehr Potenzial für Labels und Zweckgemeinschaften, sich zu engagieren und ihre eigenen kleinen Dörfer zu bauen. Um ehrlich zu sein, stehe ich dem neutral gegenüber, wenn Leute Kryptowährungen annehmen oder mit der Blockchain oder mit kooperativen Systemen experimentieren, die es schon seit Ewigkeiten gibt. Meine Botschaft ist, dass jeder anfangen muss zu experimentieren - und zwar wirklich schnell.
Smarzoch: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Author: William Esparza
Last Updated: 1703032321
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